Remo H. Largo: Wer bestimmt den Lernerfolg: Kind, Schule, Gesellschaft?
Rufer in der Wüste
Remo Largo, seines Zeichens renommierter Professor für Kinderheilkunde und Autor so bekannter Bücher wie Babyjahre, Schülerjahre und Jugendjahre hat eine Flugschrift herausgebracht. In Wer bestimmt den Lernerfolg hält er uns Eltern den Spiegel vor und plädiert einmal mehr für einen realistischen, liebevollen Umgang mit unseren Kindern. VIOLA STOCKER ließ sich gerne überzeugen.
Etwas ist faul im Staate Dänemark und mittlerweile braucht es nicht einmal mehr PISA-Studien, um uns dies vor Augen zu führen. Obschon die Mitglieder unserer Gesellschaft in zunehmenden Wohlstand leben und wir uns selbstverliebt eine »Wissensgesellschaft« nennen, vermögen wir es offensichtlich nicht, unser Wissen oder zumindest die Wertschätzung desselben an unsere Kinder weiterzugeben. Was sonst wohl würde das nur mittelmäßige Abschneiden unserer Sprösslinge bei internationalen Tests erklären?
Sinnlose Reformen
Während die Kultusminister der Länder in Panik das Schulsystem reformieren wollen, müssen sie sich nach stets neuen Vorbildern umschauen. Denn mittlerweile schneiden auch die einst hochgelobten skandinavischen Länder bei internationalen Bildungsvergleichen schlechter ab. Was ist nur mit den Kindern los, mag man sich fragen. Remo Largo tat dies offensichtlich auch und zwar infolge einer Langzeitstudie, die er mit Kollegen in der Schweiz und weltweit ausgewertet hatte.
Die Ergebnisse sind überraschend und erhellend zugleich. Lediglich zwanzig Prozent der Gesamtmenge an Einflussfaktoren fallen auf solche, die gesellschaftlich heiß diskutiert werden: weder der sozioökonomische Status, noch die Peers, noch die Schule oder die Schulleitung haben wesentlichen Einfluss auf den Lernerfolg. Diese Erkenntnis liest sich wie eine Sensation, doch die logische Konsequenz, die daraus folgt, ist eine Binsenweisheit.
Neue Lehrer braucht das Land
Denn immerhin dreißig Prozent des Lernerfolgs werden durch die Lehrerpersönlichkeit bestimmt. Sie bewirkt, dass Schüler sich angenommen, gefordert und verstanden fühlen oder eben abgelehnt, überfordert und unverstanden. Dabei sind Methodik und Didaktik sekundär. Es kommt, so Largo, einzig darauf an, wie gut es dem Lehrer gelingt, die Schüler einzubinden. Entsprechend plädiert er für eine Reform der Lehrerbildung und einen höheren Anteil von psychologischen Auswahlverfahren in der Ausbildung der Pädagogen, um möglichst früh die Spreu vom Weizen trennen zu können.
Die größte Verantwortung für den Lernerfolg tragen die Kinder schließlich selbst. Ob sie erfolgreich in der Schule sind, bestimmen die Schüler aufgrund ihrer genetischen Anlagen und ihrer Motivation. Largo setzt sich für eine realistische und flexible Sichtweise ein, die Kindern zugesteht, ihre Kompetenzen in unterschiedlichem Maß und zu unterschiedlichen Zeitpunkten zu entfalten. Selbst bei größtmöglicher Förderung wird man Unterschiede in der Lese- und Rechenkompetenz der Schüler feststellen können. Während manche Kinder schon mit vier oder fünf Jahren gut lesen, plagen sich andere ihr Leben lang.
Lernen im Tun
Kindgerechtes Lernen besteht Largo zufolge im Tun. Zu beobachten ist dies insbesondere am Erwerb der Muttersprache und der motorischen Kompetenzen im Kleinkindalter. Der kindliche Spracherwerb zieht sich über mehrere Jahre, in dem das Kind der Muttersprache ganz ausgesetzt ist. Fehler werden toleriert unter der Voraussetzung, dass Verständigung möglich ist. Dennoch verläuft der Erwerb von sprachlichen und motorischen Kompetenzen bei jedem Kind anders. Es ist Aufgabe der Eltern, sich hier von gesellschaftlichen Vorstellungen zu lösen und sich auf das jeweilige Kind zu konzentrieren.
Nachhaltiges Lernen heißt also auch, Lerninhalte aktiv erfahren zu können. Üben allein vertieft Verhaltensweisen, garantiert aber kein Wissen, das nach Jahren noch abrufbar ist. Dessen sollten sich alle Eltern bewusst sein, vor allem, wenn man bedenkt, dass Überforderung letztendlich zu Lernblockaden führen kann. Largo gibt hier zu bedenken, dass der Ruf nach Chancengerechtigkeit im Bildungssystem auch sozialen Abstieg beinhaltet. Diese bittere Pille müssen Eltern schlucken, wenn sie die Kompetenzen ihrer Kinder realistisch einschätzen können wollen, um sie umfassend fördern zu können.
Sozialpolitik ist Teil der Bildungspolitik
Unabhängig vom eigenen Wunschdenken sollte uns bewusst sein, dass jeder Abstieg einen Aufstieg für jemand anderen bedeutet. Remo Largo weist darauf hin, dass die statistischen Werte stets zur Mitte tendieren. Sehr gebildete Eltern müssen also damit rechnen, dass ihre Nachkommen den eigenen Status nicht halten können, während Eltern aus den unteren Schichten darauf hoffen dürfen, dass ihre Kinder es einst besser als sie selbst haben werden. Es ist an der Politik, dafür zu sorgen, dass diese Durchlässigkeit gewährleistet wird.
Jedes Kind in seiner Einzigartigkeit zu schätzen und zu respektieren, das ist die Aufgabe der Eltern. Die besonderen Begabungen der einzelnen Schüler zu erkennen und zu fördern, ist die Aufgabe der Lehrer. Ein flexibles Bildungssystem zu gestalten, in dem unterschiedliche Begabungen optimal gefördert werden können, ist die Aufgabe der Schulen. Es ist die Aufgabe der Politik, dafür zu sorgen, dass prinzipiell jedem Kind die größtmögliche Förderung zur Verfügung gestellt werden kann. Uns immer wieder daran zu erinnern, dass wir auf diesem Weg noch nicht sehr weit fortgeschritten sind, ist Remo Largos Aufgabe, der er sich, wie er im Interview, das der Flugschrift angehängt ist, ausführt, seit Jahrzehnten beruflich und persönlich stellt.
Titelangaben:
Remo H. Largo: Wer bestimmt den Lernerfolg: Kind, Schule, Gesellschaft?
Weinheim: Beltz Verlag 2013. 111 Seiten. 9,95 EUR.
Noch mehr interessante Rezensionen findet Ihr auf dem TITEL-blog.
Remo Largo – Anwalt der Kinder. Wenn wir den nicht hätten. Die Hattie Studie ist auch interessant: Lernprozesse sichtbar machen.
Ich weiß, ich habe darüber gelesen – bei Remo Largo. Dir noch eine schöne Woche!