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António Lobo Antunes: Ich gehe wie ein Haus in Flammen.

Psychoanalyse einer Gesellschaftsarchitektur

António Lobo Antunes ist Mediziner, ein Psychiater, der seine Patienten zu durchschauen sucht. Persönliche Schicksale erklären sich oft durch die Geschichte einer Gesellschaft. Was der Arzt diagnostiziert, verarbeitet der Autor zu verstörenden und zersetzenden Historiengemälden. In Ich gehe wie ein Haus in Flammen begegnet die hoffnungslose Sprachlosigkeit einer ganzen Nation der packenden Geschichte von Einzelnen, die immer wieder nur scheitern können. VIOLA STOCKER darf einer Sitzung beiwohnen.

Antunes widmet sich wie in vielen seiner Romane den Ausgeschlossenen und den Abgehängten einer sich wandelnden Gesellschaft. Im Szenario eines alten Stadthauses, das renovierungsbedürftig und vergessen in Lissabon steht, spiegeln sich die Leben verschiedener Bewohner, die sich nach Jahrzehnten immer noch nicht kennen. In unpersönlichen Begegnungen überschneiden sich die Wege der Menschen, die jeweils auf unterschiedlichste Weise vom Glück verlassen sind.

Anonymität der Metropole

In seiner Sprache und seinen Kapitelüberschriften passt Antunes sich einer entmenschlichten Wohnsituation an, wenn er vom „Dritten rechts“, „Erdgeschoss links“ oder „Dachboden“ spricht. Die Bewohner sind eins mit dem Haus, mit den Möbeln darin, mit der renovierungsbedürftigen Struktur einer Gesellschaft, die die eigene Vergangenheit nur unzureichend analysiert und verarbeitet hat. In diesem einen Haus spiegelt sich die portugiesische Gesellschaft exemplarisch und desaströs wider.

Über all dem schwebt der autoritäre Politiker Salazar, der Portugal über vierzig Jahre geprägt hat und dessen Geist nicht auszulöschen ist. Am Ende des Romans wird er als vergreister Strippenzieher auf dem Dachboden des Hauses porträtiert, der wie ein Marionettenspieler die Schicksale der Menschen lenkt und verbindet und Existenzen auslöscht mittels einer Schere, die die Schnüre der Puppen durchschneidet.

Menschen und Häuser

Überhaupt finden sich die Protagonisten in ihren Architekturen wieder. Alle verbindet sie die titelgebende Phrase vom Haus, das in Flammen geht. Diese entflammte Immobilie ist ihre Wohnstatt, die sie mit dem Feuer der Vergangenheit quält, während bei der Lektüre langsam die Gärten und Höfe und Häuser einer glücklichen oder verhängnisvollen Kindheit als Projektion des unerreichbaren am Horizont erscheinen.

Alle haben sie auch eine politische Geschichte. Wie der Kommunist, der als junger Mann die Machtüberschreitung der katholischen Kirche erdulden musste. Seine Mutter war die Geliebte eines Priesters, er wurde zum Kommunisten und später für Frau und Kind zum Verräter an den Kommunisten. Als er die schützenden Mauern des brennenden Hauses verlässt, holt seine Geschichte ihn ein, er, der für seinen Vater gemordet hatte, wird ermordet von seinen Genossen.

Macht und Wehrlosigkeit

Die Schicksale der Menschen sind durch eigene Grausamkeit und Machtlosigkeit enger miteinander verbunden, als die unpersönlichen Kapitelüberschriften es vermuten lassen. Zwar blendet Antunes immer einzelne Geschichten in einer Art Bewusstseinsstrom ein, doch werden die Bewohner als solche durchaus wahrgenommen. Die jüdischen Geschwister, die ihre Flucht und grausame Kindheit mit dem Verlust der Mutter auch als alte Menschen nicht verarbeiten können, werden wie alle anderen nur durch den Tod befreit.

Der portugiesische Feldwebel, der in Angola im Kolonialkrieg kämpfen musste und sich ausgerechnet in eine einheimische Frau verliebt, wünscht sich diese Zeit zurück und wartet vergebens auf eine Begegnung mit der Mutter seines Kindes. Antunes widmet sich der Politik Portugals, die auf die Leben all dieser Menschen Einfluss nahm, auf unterschiedliche Weise. Er bewertet die Entscheidungen der Protagonisten nicht, sondern versucht als Psychoanalytiker, mittels der Erfahrungen in der Vergangenheit den Zustand in der Gegenwart zu begründen.

Empathie unmöglich

Antunes ist es nicht unbedingt an emotionaler Anteilnahme gelegen. Der Nervenarzt bewahrt große Distanz zu seinen Patienten und versucht doch, die verschiedenen Traumata auf ihre Ursachen zurück zu führen. Es gelingt ihm in nahezu erschreckender Weise. Die Protagonisten bewohnen ein flammendes Geisterhaus, das die bewegte Geschichte Portugals mit Militärjunta, autoritärer Diktatur, Kolonialkriegen und der Transformation von einer ländlichen in eine urbane Gesellschaft übersteht.

Ihre Bewusstseinsströme dringen tief ins Leserbewusstsein, wirbeln die Erzählströme durcheinander bis einem am Ende des Romans durch die Begegnung mit einem gealterten Mythos, der über den Köpfen wie ein Gespenst auf dem Dachboden schwebt, ein großes Sittengemälde einer Gesellschaft vorgestellt wird, die sich noch immer nicht gefunden hat, die die eigene Geschichte wieder und wieder aufarbeiten muss, um schlussendlich in ihren Individuen Frieden finden zu können, der nicht nur durch den Tod gestiftet wird.

Titelangaben:

António Lobo Antunes: Ich gehe wie ein Haus in Flammen.

Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann.

München: Luchterhand Verlag, 2017. 448 Seiten. 24 EUR.

 

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