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Jim Shepard: Aron und der König der Kinder

Sch’majas Traum

Jim Shepard ist es gelungen, einen bedrückenden und anrührenden Bildungsroman inmitten der Grauen und Wirren des Warschauer Ghettos zu platzieren. In Aron und der König der Kinder versucht der Simpel Aron alias Sch’maja in der furchtbaren Zeit der Deportation zu überleben und seine Familie zu schützen. Natürlich gelingt ihm beides nicht. Ich las einen Roman über Menschwerdung in der Hölle.

Die Kindheit und die Lebensumstände Arons sind unglückliche, auch ohne die Schrecken der Judenverfolgung im zweiten Weltkrieg. Aron ist ein vergessenes Kind jüdischer Herkunft, dumm, unbelehrbar und untalentiert. Nichts wird aus ihm werden, so befürchtet es der Rest der Familie. Die Familie wohnt mit vier Kindern, Eltern und Onkel an der litauischen Grenze, der Vater verfolgt als eine Mischung aus fliegender Händler und Tagelöhner verschiedene Arten des Gelderwerbs, die Mutter arbeitet als Putzfrau.

Graue Trostlosigkeit

Auch ohne Antisemitismus schildert Shepard durch seinen Ich-Erzähler eine trostlose Kindheit, die von Gewalt und Gefühlslosigkeit geprägt ist. Der raue Umgang entspricht den traurigen Lebensumständen der Familie und Aron verzweifelt früh am eigenen Unvermögen und der Tatsache, für seine Familie nur eine Belastung zu sein. Schulisch permanent überfordert, flüchtet sich Aron in eine Fantasiewelt.

Shepards Sprache ist die des Kindes. Der Satzbau ist stets einfach gehalten und oft dauert es einige Zeilen, um zu begreifen, was Aron erlebt. Die große Not der Familie wird nur mittelbar geschildert, wenn Aron zum Beispiel verprügelt wird, weil er eine Schere auseinanderbaut für ein Spielzeug und die mittellose Familie dann eben ohne Schere auskommen muss. Die Perspektive einer Festanstellung in einer Warschauer Textilfabrik muss der Familie als letzter Strohhalm erschienen sein.

Urbane Grausamkeit

Aron soll in der Fabrik mitarbeiten, doch schon bald ist er auch für die schwere Kinderarbeit zu ungeschickt. Also hilft er seiner Mutter beim Kochen und Wäschewaschen und pflegt seinen jüngeren, lungenkranken Bruder. Im urbanen Elend der Straßenkinder macht sich der aufkeimende Antisemitismus nicht schlimmer aus als die restlichen Gemeinheiten des Alltags. Ist dies Shephards Erklärung für die späte Erkenntnis der Bewohner, dass sie dem Untergang geweiht sind?

Die Armut der jüdischen Bevölkerung, der omnipräsente Fatalismus und die patriarchalen Grausamkeiten gegenüber den Kindern schaffen einen gefährlichen Nährboden für menschenverachtende Kriminalität. Lange Zeit sind für Arons Familie die Straßengangs gefährlicher als die Übergriffe der Antisemiten. Für Aron wird die Mutter mit ihrer immer verzeihenden Mutterliebe zum einzigen humanistischen Kontakt für lange Zeit. Nur einen Lichtblick in seiner tristen Umgebung hat Aron: die Radiosendung des Kinderarztes Janusz Korczak.

Kindliche Gewalt

Jim Shepard erforscht in seinem Roman die kindliche Psyche auch dort, wo es für die Erwachsenen schmerzhaft wird. Kinder sind nicht unschuldig, auch Aron nicht. Er schließt sich einer Straßenkindergang unter der Führung von Lutek an und beginnt zu rauben, zu schmuggeln und zu prügeln. Im grausamen Alltag, von Schlägen und Gemeinheiten geprägt, nimmt Aron seine Gesetzesübertritte nicht als solche wahr. Schmuggeln wird erst zum Spiel, schließlich zum Überlebensmechanismus.

Mit dem Überfall auf Polen beginnen die Nationalsozialisten mit der systematischen Ausrottung der jüdischen Bevölkerung. Das Viertel, in dem Aron wohnt, wird zum Ghetto. Immer mehr arme Menschen brauchen Wohnraum, eine zweite Familie zieht bei Aron ein. Arons Hehlerei hält bald die Familie über Wasser, fordert aber immer wieder Tribute. Sein Bruder stirbt und Arons Gang tötet im Streit über Hehlerware ein Kind. Kinder werden zu Mördern und Arons Entsetzen weicht der Erkenntnis, dass er keine Alternativen hat.

Bedeutungslosigkeit der Existenz

Auch Janusz Korczak, der jüdische Kinderarzt, muss mit seinem Waisenhaus ins Ghetto umziehen. Der prominente Mediziner wird zum Bettler für seine Kinder und Arons und Korczaks Wege beginnen, sich zu kreuzen. Derweil nimmt die Geschichte ihren unvermeidlichen Lauf. Arons Brüder und Vater werden deportiert und im Versuch, sie zu retten, verkauft Aron sich als Informant an die Gestapo.

Als auch Arons Mutter am Fleckfieber stirbt, geht der letzte Mensch von ihm, der ihn beschützt hat. Die stumme Verzweiflung an ihrem Totenbett gelingt Shepard durch die konzentrierte Schilderung von Äußerlichkeiten, denn der Simpel Aron versteht nicht und verzagt. Schutzlos ist er den Bandenkriegen und den Gestapointrigen ausgeliefert, was nicht lange gut gehen kann. Er verrät seine Bande, Lutek wird vor seinen Augen erschossen und Aron wird von seinen früheren Freunden gejagt. Er irrt durchs Ghetto, das zur tödlichen Falle mutiert.

Augenblicke der Menschlichkeit

Als Janusz Korczak Aron im Winter findet, ist der Junge halberfroren. Aron darf ins Waisenhaus und in all der Not und Grausamkeit erfährt Aron zum ersten Mal Menschlichkeit und Zuneigung. Was ihm zuvor nur seine Mutter geben konnte, wird in der kleinen, hungernden Gemeinschaft des Waisenhauses zum Überlebensprinzip. Es werden plötzlich Bilder gemalt, Geschichten erzählt und Theaterstücke aufgeführt. Aron darf einen Ausflug in eine unbeschwerte Kindheit machen.

Natürlich holt ihn das Schicksal ein. Seine ehemalige Schmugglerbande findet ihn, der Widerstand will Korczak befreien und die Deportation der Juden beginnt im großen Stil. Wie ein verzweifeltes Tier versucht Aron auf seine tolpatschige Art, den Doktor und die Kinder zu befreien und muss am Ende, angekommen an den Bahngleisen der Züge in Richtung Treblinka, einsehen, dass es Befreiung nur im Tod gibt. Shepards hoffnungsloser Roman, ein schreiender Appell an die Menschlichkeit, endet mit dem Bild der Kinder, weinend, sich einnässend, autistisch, die am Bahngleis auf ihre Verfrachtung in Viehwaggons warten, während Janusz Korczak in einem letzten Kraftakt ihnen von seiner Erklärung der Rechte der Kinder erzählt: Das Recht auf Achtung, das Recht auf Persönlichkeit, das Recht auf Trauer, das Recht auf Lernen und das Recht auf Fehler. Der Ich-Erzähler verstummt.

Titelangaben:

Jim Shepard: Aron und der König der Kinder

München: Verlag C.H.Beck, 2016. 270 Seiten. 19,95 EUR.

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