Jimmy Liao: Die Sternennacht. Wo es Schatten gibt, da gibt es Licht.
Traumtänzerische Initiationserzählung
Jimmy Liaos Karriere als Grafic Novel Autor begann erst 1998 im Alter von vierzig Jahren, als der an Leukämie erkrankte ein Abschiedsgeschenk für seine Familie gestalten wollte. Er konnte seine Krankheit überwinden und als Autor neue Erfüllung finden. Sein Grundthema, die prinzipielle Verlorenheit des Individuums, hat er beibehalten. In Die Sternennacht. Wo es Schatten gibt, da gibt es Licht machen sich zwei verlorene Kinder auf die Suche nach ihrer Seele.
Erwachsenwerden ist nichts für Weichlinge. Liaos Grafic Novel ist eine erschütternde Mischung aus Bilderbuch, Comic und kafkaesker Kurzprosa. Ein Mädchen wächst bei ihren Großeltern in den Bergen auf. Liebe und Natur umgeben das Kind, das zwar die berufstätigen Eltern in der Stadt vermisst, aber auch das Leben auf dem Land genießen darf. Kaum ist es ein Schulkind, muss es in die Stadt zu den Eltern. Die Kleine vermisst die Liebe und Einfachheit bei den Großeltern und findet nicht in den strengen Rhythmus von Fordern und Leisten im Schulalltag.
Erschreckende Kindheit
Für das Mädchen haben die Eltern kaum Zeit, Haustiere sollen die Einsamkeit vertreiben. Dann stirbt der geliebte Großvater, das Mädchen verfällt in eine tiefe Depression. Als ein neuer Junge in die Klasse kommt, der ebensosehr Außenseiter ist wie das Mädchen, finden die beiden schnell zueinander. Zu zweit lässt sich die Einsamkeit leichter ertragen. Zugleich entgrenzen sich die Freunde immer mehr. Eine Flucht aufs Land scheint unausweichlich.
Die beiden fliehen vor der Großstadt, der Einsamkeit, den Streitereien zwischen den Eltern und suchen das Gefühl der Zugehörigkeit, welches das Mädchen bei den Großeltern erfahren durfte. Die Illusion scheint zu funktionieren, Wald und See sind wunderschön. Doch das Mädchen erkrankt nach der Rückkehr in die Stadt schwer und muss lange das Bett hüten. Ihr Freund verlässt die Stadt und findet Ruhe bei einer wiedervereinten Familie. Das Mädchen bleibt mit seiner Einsamkeit allein.
Starke Illustrationen
Liao arbeitet mit stark vereinfachenden Bilderbuchgrafiken, die nur auf den ersten Blick kindlich anmuten. Denn in seinen Illustrationen verstecken sich immer wieder die Werke großer Künstler, vor allem Surrealisten und der allgegenwärtige van Gogh. Künstler, die die Existenz des Menschen und die Beschaffenheit der Welt, wie wir sie sehen, stets in Frage stellen. So wird aus wundervollen Bildern eine beklemmende Situation.
Es ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden, von der Entmenschlichung unserer Gesellschaft, die nur noch durch Effizienzoptimierung auffällt. Liebe gerät zum Nebenschauplatz und Kinder, die sich ihr Leben nicht aussuchen können, werden zum Spielball der Interessen ihrer Eltern. Bedenkt man, dass Liao aus dem asiatischen Kulturkreis kommt, muten die Verdammung des konfuzianischen Fleißdenkens nahezu prophetisch an. Kinder, die an Depressionen und Burn – Out leiden, sollte es nicht geben. Eine Gesellschaft, in der Eltern ihre Kinder nicht lieben können, ist falsch und krank. Es bleibt die Flucht oder das Verzagen.
Titelangaben:
Jimmy Liao: Die Sternennacht. Wo es Schatten gibt, da gibt es Licht.
Aus den Chinesischen von Marc Hermann.
Uitikon-Waldegg: Chinabooks, 2017. 70 Seiten. 22,90 EUR.