Archiv für den Monat: November 2017

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Jimmy Liao: Die Sternennacht. Wo es Schatten gibt, da gibt es Licht.

Traumtänzerische Initiationserzählung

Jimmy Liaos Karriere als Grafic Novel Autor begann erst 1998 im Alter von vierzig Jahren, als der an Leukämie erkrankte ein Abschiedsgeschenk für seine Familie gestalten wollte. Er konnte seine Krankheit überwinden und als Autor neue Erfüllung finden. Sein Grundthema, die prinzipielle Verlorenheit des Individuums, hat er beibehalten. In Die Sternennacht. Wo es Schatten gibt, da gibt es Licht machen sich zwei verlorene Kinder auf die Suche nach ihrer Seele.

Erwachsenwerden ist nichts für Weichlinge. Liaos Grafic Novel ist eine erschütternde Mischung aus Bilderbuch, Comic und kafkaesker Kurzprosa. Ein Mädchen wächst bei ihren Großeltern in den Bergen auf. Liebe und Natur umgeben das Kind, das zwar die berufstätigen Eltern in der Stadt vermisst, aber auch das Leben auf dem Land genießen darf. Kaum ist es ein Schulkind, muss es in die Stadt zu den Eltern. Die Kleine vermisst die Liebe und Einfachheit bei den Großeltern und findet nicht in den strengen Rhythmus von Fordern und Leisten im Schulalltag.

Erschreckende Kindheit

Für das Mädchen haben die Eltern kaum Zeit, Haustiere sollen die Einsamkeit vertreiben. Dann stirbt der geliebte Großvater, das Mädchen verfällt in eine tiefe Depression. Als ein neuer Junge in die Klasse kommt, der ebensosehr Außenseiter ist wie das Mädchen, finden die beiden schnell zueinander. Zu zweit lässt sich die Einsamkeit leichter ertragen. Zugleich entgrenzen sich die Freunde immer mehr. Eine Flucht aufs Land scheint unausweichlich.

Die beiden fliehen vor der Großstadt, der Einsamkeit, den Streitereien zwischen den Eltern und suchen das Gefühl der Zugehörigkeit, welches das Mädchen bei den Großeltern erfahren durfte. Die Illusion scheint zu funktionieren, Wald und See sind wunderschön. Doch das Mädchen erkrankt nach der Rückkehr in die Stadt schwer und muss lange das Bett hüten. Ihr Freund verlässt die Stadt und findet Ruhe bei einer wiedervereinten Familie. Das Mädchen bleibt mit seiner Einsamkeit allein.

Starke Illustrationen

Liao arbeitet mit stark vereinfachenden Bilderbuchgrafiken, die nur auf den ersten Blick kindlich anmuten. Denn in seinen Illustrationen verstecken sich immer wieder die Werke großer Künstler, vor allem Surrealisten und der allgegenwärtige van Gogh. Künstler, die die Existenz des Menschen und die Beschaffenheit der Welt, wie wir sie sehen, stets in Frage stellen. So wird aus wundervollen Bildern eine beklemmende Situation.

Es ist eine Geschichte vom Erwachsenwerden, von der Entmenschlichung unserer Gesellschaft, die nur noch durch Effizienzoptimierung auffällt. Liebe gerät zum Nebenschauplatz und Kinder, die sich ihr Leben nicht aussuchen können, werden zum Spielball der Interessen ihrer Eltern. Bedenkt man, dass Liao aus dem asiatischen Kulturkreis kommt, muten die Verdammung des konfuzianischen Fleißdenkens nahezu prophetisch an. Kinder, die an Depressionen und Burn – Out leiden, sollte es nicht geben. Eine Gesellschaft, in der Eltern ihre Kinder nicht lieben können, ist falsch und krank. Es bleibt die Flucht oder das Verzagen.

Titelangaben:

Jimmy Liao: Die Sternennacht. Wo es Schatten gibt, da gibt es Licht.

Aus den Chinesischen von Marc Hermann.

Uitikon-Waldegg: Chinabooks, 2017. 70 Seiten. 22,90 EUR.

Die Konzertzeit beginnt – concert times

Diesmal habe ich mich auf absolutes Neuland gewagt. Unfreiwillig, eigentlich. Es wird Herbst und damit beginnt die Konzertzeit für Musikschulkinder. Meine Mädchen treten mit ihren Ensembles auf und wenn man Gitarre oder Cello spielt, bevorzugt man lange Hosen, sofern man nicht auf Abendkleider steht. Letztes Jahr hatte ich Charlotte eine wunderschöne Hose aus schwarzem Samt genäht, doch die ist nun zu klein und wird in den Schrank der kleinen Schwester wandern. Kein Problem, dachte ich, in einem Haus voller Stoff und ich machte mir einen Schnitt in der neuen Größe und ging Stoff suchen. War da nicht noch ein schwarzer Cordsamt irgendwo? Tatsächlich fand ich gar nichts und kam ins Grübeln. Stoff kaufen? Wohl kaum zu rechtfertigen bei meinem Vorrat. Hose kaufen? Ungern.

This time I dared to try something new. Concert time has begun, as always in autumn and the girls are deep into making music and wearing pretty clothes. Pants are preferred and I had made a beautiful pair of black concert pants for Charlotte last year, which were just right for Friederike this year. Hence  a new pair was needed and I cut out a new pattern only to find out I had no fabric in the house. To make this clear: no black fabric suitable for pants. I guess I have any other fabrics whatsoever.

Also: ein Experiment. Aus dem ganzen Bekanntenkreis bekomme ich alte Textilien zum Zerschneiden zugesteckt. Keine Ahnung, von wem die schwarze Jeans kam, die Säume waren abgetreten. Es hat mich ziemlich viel Zeit und Nerv gekostet, alles abzutrennen, so dass es zur Wiederverwertung taugt, aber es funktionierte. Aus einer großen Hose wurde eine kleine, ich konnte sogar die Schnittteile so auflegen, dass ich nicht einmal Taschen oder Bund zuschneiden musste. Der alte Reißverschluss wurde der neue, nur der Untertritt musste neu zugeschnitten werden. Sogar den Bund mit dem Etikett konnte ich wieder annähen und die Hose sieht aus wie neu. Allerdings kostete mich das Experiment zwei Nachmittage. Aber es funktioniert und ich habe nun die perfekte Wiederverwertungsmethode für abgetretene Erwachsenenjeans!

Well, that cried for experiments. I have an upcycling stash of old blue jeans and well, there was a black one, too. And after two afternoons and some anger and some cursing, I had made a small pair of pants out of a larger one. I used even the zipper, all the pockets and the waistband. I dare say this pant was perfectly recycled. Only it took more care and time than I had expected. Like so often.

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Neu Gelesen

Feridun Zaimoglu: Evangelio. Ein Luther Roman.

Zeitreise mit Dämonen

Pünktlich zum Reformationsjubiläum erscheint Feridun Zaimoglus Roman Evangelio. Er umfasst den Zeitraum der Haft, die Martin Luther nach seinem Thesenanschlag in Wittenberg auf der Wartburg verbüßen muss. Im Jubiläumsjahr verarbeitet Zaimoglu wohl eines der prominentesten Schicksale der deutschen Geschichte. Seinem kritischen Blickwinkel ist es zu verdanken, dass aus seinem Luther weder ein vergötterter Prophet noch ein Teufel geworden ist. VIOLA STOCKER begibt sich in den Abgrund der Dämonen.

Es ist Landsknecht Burkhard, ein Katholik, der zum persönlichen Schutz von Martin Luther, genannt Junker Georg, auf der Wartburg abgestellt ist. Der kampferprobte Söldner weiß meist nicht, was er vom intellektuellen Häftling halten soll, auch umgekehrt braucht Luther lange, bis er sich an den rauhbeinigen Kämpfer herantastet. Luther hat sich für die Haft in der Wartburg sein wohl bekanntestes Projekt vorgenommen: die Übersetzung der Heiligen Schrift in die deutsche Sprache.

Visionen eines Visionärs

Die Tage in der Haft verbringt Luther in gequältem Zustand. Sein Körper versagt immer wieder, allen voran das Verdauungssystem, was Wächter Burkhard zu üblen Scherzen verleitet, aber der Metaphorik des Romans folgt, nach der das äußere Streben des Geistlichen von inneren Dämonen und Plagen begleitet wird. Wird Luthers Reformation heute als der Beginn der Moderne gesehen, muten die Bonmots aus des Meisters Mund hier mehr als mittelalterlich an.

Luther ist ein Frauenhasser, der wie ein Inquisitor Dämonen und Teufelsanbeter in jedem Winkel wahrnimmt. Seinen kläglichen köperlichen Zustand vermag er nur durch gelegentliche Exorzismen, denen sich arme Hungerleider unterziehen müssen, zu verbessern. Stets scheint der Katholik Burkhard, der rationale Realpolitiker, im Vorteil und mehr als einmal rettet er Leib und Leben des Predigers.

Ungleiche Freundschaft

Anfangs unfreiwillig, entwickelt sich eine Freundschaft zwischen dem Prediger und dem Söldner. Burkhard unterstützt auf seine unbeholfene Weise Luthers Streben nach einer verständlichen Bibel, der Geistliche hingegen legt für den undiplomatischen Krieger so manch gutes Wort ein, wenn Hauptmann und Burgherr ob der Ruchlosigkeit des Soldaten die Geduld verlieren wollen. Burkhard ermöglicht Luther schließlich zwar nicht die Flucht, doch wohl Ausflüge in die nahegelegenen Ortschaften und schließlich auch nach Wittenberg, wo der Geistliche sich mit seinen Mitstreitern beratschlagt.

Zaimoglu beschränkt sich auf einen kleinen Ausschnitt aus Luthers Biographie und auch dieser wird nicht abschließend behandelt. Die Bibel ist noch nicht fertig übersetzt, als der Roman endet. Den Spannungsbogen bezieht die Handlung aus verschiedenen Kunstgriffen Zaimoglus, die gleichzeitig den Roman sehr authentisch wirken lassen. Zum einen gelingt es Zaimoglu glaubhaft, den historischen Sprachgebrauch nachzuempfinden. Das derbe Mittelhochdeutsch Luthers, die berühmte Schlagfertigkeit des Geistlichen, die sich in zahlreichen Redewendungen bis heute zeigt, spiegelt die Zerrissenheit des Predigers zwischen göttlichem Auftrag und weltlichen Belangen.

Monologe des Zweifelns

Während die deftigen Ausbrüche des Gelehrten oft an die Grenze zur Karrikatur gehen, zeugen die Briefe an Georg Spalatin und Philipp Melanchthon von den tiefen Zweifeln und Kämpfen des Klerikers um eine bessere und reinere Version des christlichen Glaubens. Wie sehr zur damaligen Zeit Glaube und Aberglaube im Alltag vermengt waren, wird durch die vielen Szenen verdeutlicht, die den Krieger Burkhard im Umgang mit seinesgleichen zeigen. Zauberei, Magie und Hexenkunst aus altüberlieferter Zeit waren religiös ummantelt worden und hatten mit dem Christentum der Bibel nur wenig gemein.

Zaimoglus Roman ist dennoch keine Posse, was vor allem an der Briefkorrespondenz zwischen Luther und seinen intellektuellen Unterstützern liegt. Hier offenbaren sich des Reformators schlimmste Zweifel und Befürchtungen, hier kämpft er an vorderster verbaler Front für seine Sache. Sein Aufenthalt in Wittenberg dagegen ist weniger fruchtbringend. Verrat und Furcht durchdringen die sehr heterogene Gesellschaft der Glaubenserneuerer, zahlreiche selbsternannte Propheten oder gar Volksbefreier wollen auf Luthers Welle mitschwimmen. Am Ende wird schweigend Burkhard, der verabscheute Söldner und Katholik, verdingt, auf Verleumder Luthers einen tödlichen Anschlag zu verüben, um der guten Sache willen. Längst ist die Reformation in der Realpolitik angekommen, es riecht nach Krieg und Tod und Burkhard bringt Luther zurück in die Schutzhaft.

Ahnung von Geschichte

Vor allem durch die konsequent angewandte, zeitgenössische Sprache wird der Roman glaubhaft. So könnte es gewesen sein, fernab von Glanz und Gloria, als Luther die Kirche von Rom loslösen und den deutschen Fürsten unterstellen wollte. Im Sumpf des mittelalterlichen Stadtlebens mit seinen Ständen, dem Gesindel, dem Abschaum, dem Schmutz und den Heilsbringern muss Luther sich als wahrer Reformator durchsetzen und sucht die Unterstützung der Fürsten. Für sein Ideal zahlt er mit seiner Freiheit und vielen kleinen Sünden. Wahn und Wahrheit scheinen näher beisammen zu liegen als heute, Hass und Terror unmittelbarer erfahrbar zu sein. Zaimoglu verfasste keine Parabel, der Roman ist eher ein Versuch, sich dem großen Deutschen möglichst neutral und echt zu nähern. Davon profitiert der Lesegenuss, der Intellekt darf selbst die Schlüsse ziehen.

Titelangaben:

Feridun Zaimoglu: Evangelio. Ein Luther Roman.

Köln: Kiepenheuer und Witsch, 2017. 352 Seiten. 22 EUR.

MMI – Meinen Herbstgarten

Wenn an warmen Tagen die Sonne über meinen Balkon streicht, sitze ich draußen und tanke ein bisschen auf. So schön ist ein Herbstgarten, bevor er sich zur Ruhe legt und jedes Jahr staune ich, wieviele Blätter von so einem Baum runterkommen. Und im Moment ist es nur der Ahorn, nicht die Buchen. Respekt!

Verlinkt mit MMI!